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AutorenbildIon Karagounis

Biodiversitätsverlust betrifft die Wirtschaft stärker, als wir denken


Extreme Wetterereignisse, der Kollaps des Ökosystems, die Verknappung natürlicher Ressourcen sowie der Verlust von Biodiversität: Bei diesen Stichworten handelt es sich nicht etwa um die Schreckensszenarien einer Umweltorganisation, sondern um das WEF-Ranking der grössten Risiken für Gesellschaft und Wirtschaft. Das World Economic Forum WEF erstellt es jährlich, basierend auf Umfragen unter Wirtschaftskräften. In einer Zehnjahresperspektive landen die vier oben genannten Risiken auf den Plätzen 1 bis 4. Erst auf den hinteren Rängen folgen gesellschaftliche oder soziale Risiken wie unbeabsichtigte Effekte von künstlicher Intelligenz, unfreiwillige Migration oder die soziale Polarisation.

Selbst wenn wir uns zurzeit auf die Bekämpfung des Klimawandels konzentrieren: Die massiven Veränderungen unserer Ökosysteme – das grossflächige Abholzen und Abbrennen von Tropenwäldern, das Leerfischen der Meere, die Gewässerverschmutzung sowie die Verbreitung invasiver Arten – bedrohen unsere Wirtschaft fundamental. Das ist nicht erstaunlich, hängt doch fast die Hälfte der global erbrachten Wirtschaftsleistung – 44 Billionen US-Dollar – von einer intakten Natur ab.


Viele Wirtschaftssektoren sind betroffen

Bei der Land- und Forstwirtschaft und der darauf aufbauenden Nahrungsmittelindustrie liegen die Abhängigkeiten auf der Hand, ebenso bei der Fischerei: Ihre Produkte basieren direkt auf dem Wohlergehen der Natur. Doch viele weitere Sektoren sind auf eine funktionsfähige Umwelt angewiesen. Die Pharmaindustrie beispielsweise braucht für die Herstellung von Medikamenten und Kosmetika eine Unzahl natürlicher Stoffe. Auch der Tourismus ist ohne intakte Natur kaum denkbar. Und, last, but not least: Wasser ist für viele Unternehmen ein unverzichtbarer Rohstoff, da es für zahlreiche Prozesse gebraucht wird.

Für viele Unternehmen ist es heute selbstverständlich, sich mit Umweltfragen zu befassen (Abwasserreinigung, Luftreinhaltung, Energieeinsatz, Klimaschutz). Jetzt benötigen sie zusätzliche Expertise, da sie sich in Zukunft vermehrt mit dem Schutz ihrer natürlichen Produktionsgrundlagen auseinandersetzen müssen. Das dürfte aus zwei Gründen noch kniffliger werden, als das Klima zu schützen:

Erstens: Beim Klima ist die Stossrichtung klar: weg von der Verbrennung fossiler Stoffe. Damit lässt sich ein Grossteil der klimawirksamen Emissionen vermeiden. Der Schutz der Biodiversität dagegen ist vielschichtiger und kleinräumiger: Da geht es um tropische Wälder auf Sumatra, um die Fischgründe vor Madagaskar, um die Durchgängigkeit von Gewässern in der Schweiz oder um den Erhalt der Bodenfruchtbarkeit in Spanien.

Zweitens: Beim Klimaschutz verfügen wir über einen riesigen Pool von technologischen Ansätzen, allen voran Energiegewinnungsformen, die die Umwelt weniger belasten als heute, sofern wir sie überlegt einsetzen. Daraus lassen sich interessante Geschäftsfelder entwickeln. Anders sieht es bei der Biodiversität aus. Die effektivste Schutzmassnahme heisst: «Hände weg!» Wertvolle Flächen lässt man am besten unberührt. Das fällt uns Menschen bekanntlich schwer.


Von der Kiesgrube über die Kuhweide bis zum Amazonas

Am Anfang steht deshalb eine Analyse: Wo trägt mein Unternehmen am meisten zur Zerstörung von Biodiversität bei? Bei einem Bauunternehmen mag dies in der nächsten Kiesgrube oder in einem Neubaugebiet der Fall sein, bei einem Milchproduzenten auf der Weide vor seinem Haus. Bei den meisten Schweizer Industrie- und Dienstleistungsunternehmen liegt das Hauptproblem jedoch bei den Zulieferern im Ausland. Entsprechend anspruchsvoll gestaltet sich die Aufgabe.

Hilfe bietet beispielsweise der (kostenlose) Biodiversitäts-Risikofilter des WWF. Er zeigt, in welchen Weltregionen für die Biodiversität ein besonders hohes Risiko von unternehmerischen Tätigkeiten ausgeht. Andere Tools wie etwa diejenigen des Science-based-targets-Netzwerks ermöglichen es, Massnahmen gegen den Verlust von Biodiversität zu ergreifen. Die Bandbreite möglicher Massnahmen ist gross. Sie hängt vom konkreten Fall ab und reicht von einfachen Schutzmassnahmen bis hin zu einer kompletten Neuausrichtung der Geschäftstätigkeit.

Mein Fazit: Erstens: Lange dachten und hofften Wirtschaft und Unternehmen, dass der Schutz der Biodiversität ein Thema für die Wissenschaft und für die öffentliche Hand bleibe. Oder sie gingen davon aus, dass es nur weit weg Probleme gebe, irgendwo bei den brennenden Wäldern im Amazonas oder auf Indonesien. Wer heute noch so denkt, liegt falsch. Zweitens: Für den Schutz der Biodiversität sind branchen- und unternehmensspezifische Lösungen notwendig; die dafür benötigte Expertise müssen sich Unternehmen erst noch aufbauen.


PS:

Schützen, was wir brauchen: So lautet der Slogan zur Abstimmung zur Biodiversitäts-Initiative, über die wir am 22. September abstimmen werden. Die Initiative will den Schutz unserer Lebensgrundlagen besser in der Bundesverfassung verankern. Sie verlangt, dass schutzwürdige Landschaften, Ortsbilder, geschichtliche Stätten sowie Natur- und Kulturdenkmäler bewahrt werden, dass Natur, Landschaften und das baukulturelle Erbe auch ausserhalb der Schutzobjekte geschont werden und dass die zur Sicherung und Stärkung der Biodiversität erforderlichen Flächen, Mittel und Instrumente zur Verfügung stehen. Der WWF und viele andere Organisationen empfehlen ein Ja.


Der nächste Blogbeitrag wird im November erscheinen.


Alle bisherigen Blogbeiträge hier

Rethink Serie von Ion Karagounis, Verantwortlicher für neue Wirtschaftsmodelle und Zukunftsfragen beim WWF Schweiz und One Planet Lab Projektteam

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