Von Stephanie Moser und Christoph Bader vom Zentrum für Entwicklung und Umwelt der Universität Bern
Zivilgesellschaftliche Nachhaltigkeitsinitiativen leisten einen wichtigen Beitrag zum Wandel in eine zukunftsfähige Gesellschaft. Dies, indem sie neue Ideen ausprobieren und damit Alternativen zu den gängigen Konsum- und Produktionsmustern bereitstellen.
Ein gesellschaftlicher Wandel ist dringend notwendig, nicht nur für einen effektiven Schutz von Klima und Biodiversität, sondern auch, um weitere drängende Nachhaltigkeitsprobleme anzugehen, wie zum Beispiel die vorherrschende globale Ungleichheit. Doch wo beginnen? Muss sich als erstes das Verhalten von Konsumentinnen und Konsumenten ändern? Oder brauchen wir zuerst griffige Anreize, Regeln und Gesetze? Bevor man an dieser Huhn-Ei-Frage verzweifelt, kann es helfen, sich gesellschaftliche Veränderungen als einen komplexen Prozess vorzustellen. Darin verändern sich verschiedene gesellschaftliche Subsysteme auf mehreren Ebenen gleichzeitig und aufeinander abgestimmt. Die Forschung zu sozio-technischen Nachhaltigkeitstransitionen verwendet dazu häufig das Mehrebenen-Modell; es liefert hier einen unterstützenden Denkrahmen. Das Mehrebenen-Modell der sozio-technischen Nachhaltigkeitsforschung umfasst die drei Ebenen «Landschaft» (Ebene 3), «Regime» (Ebene 2) und «Nische» (Ebene 1).
Das Mehrebenen-Modell der sozio-technischen Nachhaltigkeitsforschung. Bildquelle: EEA. (2018). Perspectives on transitions to sustainability (Publication Nr. 25/2017; EEA Report). https://www.eea.europa.eu/publications/perspectives-on-transitions-to-sustainability
Der Ausgangspunkt: Neue Lösungen denken und ausprobieren
Gemäss diesem Denkrahmen entsteht gesellschaftlicher Wandel durch Experimentieren und durch Ausprobieren neuer Ideen, sogenannten Innovationen, in gesellschaftlichen Nischen. Bei Innovationen denkt man klassischerweise an neue technologische Lösungen. Aber auch neue Varianten nachhaltigerer Produkte, Dienstleistungen, Geschäftsmodelle, Zusammenarbeitsformen sowie Konsum- und Lebensstile beginnen im Kleinen. Dies, wenn sich engagierte Personen in zivilgesellschaftlichen Nachhaltigkeitsinitiativen zusammentun, um Neues auszuprobieren. So entstanden in den letzten Jahren attraktive Alternativen zu den bisherigen Konsumoptionen, zumindest in urbanen Regionen. Dazu zählen beispielsweise Repair Cafés, Unverpacktläden, Energiegenossenschaften, Kleidertauschbörsen, Fahrradleihsysteme und vertragslandwirtschaftliche Projekte.
Gängige Konsum- und Produktionssysteme herausfordern
Das Wichtige dabei ist, Alternativen zu den etablierten Konsum- und Produktionsmustern zu denken und auszuprobieren, um gesellschaftliche Lernprozesse in Gang zu setzen. Gelungene Beispiele expandieren und sie finden Nachahmerinnen, welche die ursprüngliche Idee aufgreifen und weiterentwickeln. Nach und nach erfolgt eine gewisse Normierung; Standards und Best Practices bilden sich heraus. Dies unterstützt eine Verbreitung zusätzlich, bis die neue Idee plötzlich zu einer ernsthaften Konkurrenz der bisher vorherrschenden Konsumvariante wird. Auch wenn es sich empirisch nicht beweisen lässt, so ist doch anzunehmen, dass Unverpacktläden einen Beitrag zu einem erhöhten gesellschaftlichen Bewusstsein der Plastikproblematik geleistet haben. Das wiederum zwang nicht nur Grossverteiler zu einem Überdenken ihrer Praxis, sondern ebnete auch die gesellschaftliche Akzeptanz für ein EU-weites Einweg-Plastikverbot. Auch wäre der durch die Energiekrise ausgelöste aktuelle Boom zum Bau von Solaranlagen kaum zu bewältigen, gäbe es nicht bereits zahlreiche Energiegenossenschaften, welche verschiedene Varianten – von Selbstbau übers Anmieten von Dachflächen bis hin zur gemeinsamen Energieallmende – im Vorfeld ausgetestet und verfeinert hätten. Diese Beispiele illustrieren: Ein gesellschaftlicher Wandel ist ein Zusammenspiel gesellschaftlicher Grossereignisse (wie zum Beispiel der Energiekrise, Ebene 3 im Multilevel-Modell) und Nischenaktivitäten (Initiativen, welche mit Innovationen experimentieren, Ebene 1 im Multilevel-Modell), um vorherrschende Konsummuster, Anreizsysteme und Gesetze (die vorherrschenden, nicht-nachhaltigen Konsum- und Produktionssysteme, Ebene 2) aufzubrechen und zu einer nachhaltigeren Ausgestaltung zu drängen.
Und die Menschen dahinter?
Aus dem Blickwinkel des Mehrebenen-Modells sind wir alle nicht einfach passive Konsumierende, sondern wir bekommen eine aktive Rolle darin, den gesellschaftlichen Wandel mitzugestalten. Dies, indem wir uns auf Neues einlassen, uns mit Gleichgesinnten zusammentun und Alternativen erdenken und ausprobieren. Nicht jede Initiative wird dabei den Durchbruch schaffen. Aus einem Verständnis des gesellschaftlichen Such- und Lernprozesses, den wir zum Wandel brauchen, ist auch ein Scheitern eine wichtige Erfahrung, aus welcher andere lernen können. Scheitern und neu Anpacken ist allemal besser als Nichtstun.
Weitere Unterlagen zu diesem Thema findest du hier:
📃 Das Mehrebenen-Modell der sozio-technischen Nachhaltigkeitsforschung umfasst die drei Ebenen «Landschaft» (Ebene 3), «Regime» (Ebene 2) und «Nische» Ebene 1. Der aktuelle Stand der Forschung in diesem Bereich wird in diesem Artikel von Frank W. Geels übersichtlich zusammengefasst: https://www.sciencedirect.com/science/article/pii/S1877343519300375
🎥 Eine Einführung auf Deutsch zum Mehrebenen-Modell wird in diesem Video von Uwe Schneidewind vorgestellt. https://www.youtube.com/watch?v=sgXAlhUepIM
🎥 In diesem Beitrag von uns gibt es weitere Informationen zu Beispielen vielversprechender Nachhaltigkeitsinitiativen und den Herausforderungen, welchen sie auf dem Weg aus der Nische in die Gesellschaft begegnen: https://www.youtube.com/watch?v=9lwMHTG8TGI&t=9s
📃 In diesem Beitrag beschreiben wir einige weitere Beispiele von Nachhaltigkeitsinitativen: https://www.bafu.admin.ch/bafu/de/home/themen/ernaehrung-wohnen-mobilitaet/dossiers/magazin-2022-4-dossier/es-geht-um-verantwortung-nicht-um-profit.html
📃 In diesem Bericht argumentieren wir, dass zivilgesellschaftliche Initiativen und soziale Innovationen einen wichtigen Beitrag zu einer Nachhaltigkeitstransformation liefern: https://energieforschung-zuerich.ch/media/topics/report/FP-1.18_Bericht.pdf
📃 In diesem Artikel untersuchten wir den Spagat, welcher sich zwischen Motivation zum Engagement für Nachhaltigkeitsinitiativen und der Notwendigkeit, genügend Mitglieder und Kundinnen zu gewinnen auftut: https://boris.unibe.ch/178462/1/Moser_Bader_2023_Why_do_people_participate_in_grassroots_sustainability_initiatives__Different_motives_for_different_levels_of_involvement.pdf
📃 Das Mehrebenen-Modell fand beispielsweise Eingang in den Bericht «Welt im Wandel – Gesellschaftsvertrag für eine Grosse Transformation» des WGBU https://www.wbgu.de/de/publikationen/publikation/welt-im-wandel-gesellschaftsvertrag-fuer-eine-grosse-transformation, in eine Wegweisende Publikation der EEA https://www.eea.europa.eu/publications/perspectives-on-transitions-to-sustainability
und in verschiedene Werke von Maja Göpel https://www.maja-goepel.de
Bis jetzt erschienen im Rethink-Blog:
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