«Demokratie ist halt so, das geht nicht schneller.» Im Kern mag diese Aussage richtig sein, gleichzeitig scheint sie mir als Ausrede dafür zu dienen, nichts gegen die Klimakrise tun zu müssen. Dabei sagt die Wissenschaft klar, dass das Tempo, mit dem wir im Klimaschutz vorwärts machen, entscheidend ist, um die Erderhitzung auf ein verträgliches Mass einschränken zu können. Deshalb genügt es vielen Menschen nicht mehr, auf morgen vertröstet zu werden, und sie suchen neue Wege. Sie wollen die demokratischen Entscheidungsprozesse beschleunigen, sie mit zusätzlichen Elementen ergänzen oder sie teilweise umgehen.
Ich habe fünf Vorgehensweisen analysiert und mir überlegt, ob sie wirksam sind und ob wir damit schneller werden:
Klimaschutz über die Gerichte einfordern: Weltweit reichen immer mehr Menschen oder Organisationen Klimaklagen ein mit dem Ziel, Staaten oder Unternehmen zum Handeln zu zwingen. Einige spektakuläre Urteile sind bereits gefallen: 2022 verpflichtete das niederländische Distriktgericht Haag den Ölkonzern Shell, die CO2-Emissionen bis 2030 um 45 Prozent zu senken. Mitte April verurteilte der europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) die Schweiz, weil die Schweiz nicht genug tue, um die Bevölkerung vor den Folgen des Klimawandels zu schützen.
Bewilligungsverfahren vereinfachen und beschleunigen: Vom ersten Plan bis zum letztinstanzlichen Gerichtsurteil können heute bei umstrittenen Projekten zehn oder mehr Jahre vergehen. Bewilligungsverfahren, beispielsweise zum Bau von Windkraftanlagen oder Solarparks, sollen beschleunigt werden, indem Verfahrensschritte zusammengelegt oder Zuständigkeiten von den Kantonen zum Bund verlegt werden. Eine weitere Möglichkeit: Den Gerichten mehr Kapazitäten zugestehen, damit sie Rechtsverfahren schneller abwickeln können.
Sich auf die Strasse kleben: Mit Protesten auf der Strasse, zivilem Ungehorsam und Aktionen im Graubereich der Legalität gewinnt man Aufmerksamkeit und erhöht den Druck auf die Politik. Auf diese Art und Weise agieren Fridays for future, der Klimastreik, Extinction Rebellion, Renovate Switzerland oder die Letzte Generation. Mit ihren teilweise als illegal bewerteten Aktionen ziehen sie immer wieder Aufmerksamkeit, aber auch Ärger auf sich. Doch die Abschaffung der Sklaverei, die rechtliche Gleichstellung von Menschen, die Einführung des Frauenstimmrechts oder die Duldung von gleichgeschlechtlicher Liebe wären nie erreicht worden, wenn nicht mutige Menschen die Grenzen der Konformität und der Legalität überschritten hätten.
Zukunftsräte ergänzen die parlamentarische Arbeit Zufällig ausgewählte Menschen bilden einen Zukunfts- oder Bürgerinnenrat und entscheiden darüber, wie mit zentralen gesellschaftlichen Fragen umzugehen ist. Die Annahme dahinter: Diese Gruppe entscheidet sich eher für das Gemeinwohl (und somit für griffigere Massnahmen gegen die Klimakrise) als gewählte Politiker, die von ihrer Klientel wiedergewählt werden wollen. Verschiedene Länder haben in den vergangenen Jahren Erfahrungen mit Zukunfts- oder Bürgerräten gesammelt. In Schottland, Österreich, Spanien oder Irland geben sie unterdessen regelmässig Empfehlungen an die Regierungen ab, die schriftlich darauf reagieren müssen.
Expertenräte beurteilen oder verfügen Massnahmen
Expertenwissen erhält einen grösseren Einfluss als heute im Umgang mit der Klimakrise. Die Politik legt die Grundsätze und Ziele der Klimapolitik fest, über den Weg zur Umsetzung entscheiden jedoch Expertinnen und Experten. Die Hoffnung dahinter: Mit einer neuen Zuteilung von Aufgaben und Kompetenzen zwischen Politik, Verwaltung und Expertinnen liessen sich viele Blockaden lösen. Ein Beispiel dafür liefert Grossbritannien mit seinem Climate Change Committee (CCC). Es bewertet die Fortschritte, die die Politik bei der Umsetzung der Klimaschutzgesetzgebung macht, und berät die Regierung, wenn es um zusätzliche Massnahmen geht. Das Parlament ist seinen Vorschlägen bis jetzt meist gefolgt.
Und so beurteile ich die Chancen:
Beschleunigung | Wirksamkeit | |
Klagen vor Gericht | kaum | lagfristig hoch |
Verfahren beschleunigen | potenziell hoch | hoch, kontraproduktive Effekte möglich |
Kleben | manchmal beschleunigend, manchmal verzögernd | langfristig hoch |
Zukunftsräte | nein | vermutlich mittel (keine Langfristerfahrung) |
Expert:innengremium | mittel bis hoch | hoch |
Wie ich genau zu diesen Einschätzungen komme, steht in diesem Beitrag im «Magazin» 18/24.
Lohnt es sich also, auf die fünf Ansätze zu setzen? Mein Fazit: Erstens: Über die Vorgehensweisen Klagen und Kleben müssen wir nicht diskutieren. In einem demokratischen Rechtsstaat wird es immer Menschen geben, die diese Wege nehmen, egal, ob es uns passt oder nicht, egal, ob wir sie als legitim empfinden oder nicht. Zweitens: Die drei anderen Ansätze haben ebenso das Potenzial, uns im Klimaschutz weiterzubringen und unsere demokratischen Prozesse den aktuellen Herausforderungen anzupassen. Schneller werden wir vermutlich nur in Einzelfällen, dafür aber wirksamer.
PS:
Endlich vorwärts machen mit sauberer Energie: So lautet der Slogan zur Abstimmung zum Stromgesetz vom 9. Juni. Neben der gezielten (finanziellen) Förderung von erneuerbaren Energieträgern enthält das neue Gesetz auch einige neue Bestimmungen, dank derer die Verfahren zum Bau von Wind- und Solaranlagen vereinfacht werden – also ganz im Sinne von Punkt 2 «Verfahren beschleunigen». Der WWF, weitere Umweltorganisationen, die meisten Parteien sowie viele Wirtschaftsverbände empfehlen deshalb ein Ja zum neuen Gesetz.
Der nächste Blogbeitrag wird im September erscheinen.
Alle bisherigen Blogbeiträge hier.
Zu diesem Thema ist auch die Studie von Otto et al (2020) spannend, in der soziale Kipppunkte mittels Experteninterviews zusammengefasst wurden. Ein bedeutender Kippmechanismus ist die Veränderung der Finanzmärkte und ein Stopp der Investitionen in fossile Brennstoffe.
Hier die Studie (frei zugänglich): https://www.pnas.org/doi/epdf/10.1073/pnas.1900577117 Liebe Grüsse Nicole